„Wir sind die, die nicht ertrunken sind“
Nahed al Essa wurde von Heide Marie Voigt eingeladen, sich an „Gastgeber Sprache“ zu beteiligen. Foto:NIK
Artikel vom: 30.04.2024
Vegesack (NIK) – Im Rahmen des Programms von „Gastgeber Sprache“ fand eine besondere Lesung im „Dünenweg“, dem Bewohnertreff der Grohner Düne statt. Heide Marie Voigt hatte Nahed al Essa eingeladen, aus ihrem ersten deutschsprachigen Buch vorzulesen. Mit ihrem ganz eigenen Humor konnte die Autorin eine lebensfrohe und zugleich bedrückende Erfahrung vermitteln.
Der Titel „4222 Kilometer“ verweist auf die Geschichte einer gelungenen Flucht und ein Leben zwischen den Welten. Nahed al Essa stammt aus Syrien. Seit dem ersten Luftangriff auf Damaskus war sie mit ihren zwei Kindern und ihrer vorgepackten Tasche stets abreisebereit. Mehrfach musste sie dabei aber die Kinder auch zeitweise zurücklassen. Was Flüchtende inzwischen als den „normalen Weg nach Europa“ bezeichnen, war für Kinder zu gefährlich. In acht Schlauchbooten seien sie aufgebrochen, doch nur sieben Boote kamen an. Am Strand habe ihr ein Fremder seinen Mantel geschenkt mit den Worten: „Wir Männer können die Kälte länger ertragen“. Als sie den Mantel später an ein ihr ebenfalls fremdes Kind weiterreichte, habe dieses gefragt: „Wer seid ihr?“ „Wir sind die, die nicht ertrunken sind“ antwortete sie.
Die Erfahrung habe ihr Leben in zwei Sphären geteilt: Sie denke und fühle nun im Vorher und im Nachher. Viele Dinge habe sie zum letzten Mal erlebt und getan, diese Eindrücke zählt sie detailliert auf. Von einem Lied ihres Bruders blieben ihr die Worte „Meine Schwester, bleib hier“ in Erinnerung.
Das Wort „Problem“ hatte im Vorher für sie eine vollkommen andere Bedeutung, etwa Dinge wie eine Lippenstiftfarbe auszuwählen. Ein großes Glück sei es gewesen, im Stadtzentrum von Damaskus einen freien Parkplatz zu finden. Im Rückblick wünsche sie sich alle dieser „Sorgen oder Sörgchen“ zurück.
In Deutschland findet sie: „Das Wetter übertreibt“. So glaubten ihre Kinder zunächst nicht, dass sie zur Schule müssen, wenn es doch noch Nacht ist: „Wo bleibt der neue Tag?“ Der graue Himmel erinnere sie an Baumwolle. Man höre immer „Es bleibt bedeckt“. Wovon wir bedeckt werden, werde nicht berichtet. Ihre Nachbarin in Damaskus habe gesagt: „Du fühlst dich nicht gut, dann kommt der Kaffee eben zu dir“ Dem stellte sie ihre Nachbarin in Bochum gegenüber, die sie immer noch sieze und fürs Kaffeetrinken einen Termin in drei Tagen vereinbare. Verschmitzt sagte sie, nach einigen Jahren habe sie schon eine Allergie gegen Spontaneität entwickelt. Müll trenne sie sehr genau und wisse, wer das nicht tue, habe wahrscheinlich einen Migrationshintergrund. Ihre Freizeit sei komplett durchgeplant, denn die dürfe ja nicht frei bleiben.
Zweifel an ihrem Selbstvertrauen seien ihr erst durch die Sprachbarriere gekommen. Von der unbewegten Mimik eines Beamten verwundert fragte sie: „Ist mein Deutsch Ihnen unverständlich?“ Er habe ihr gesagt, auf der Arbeit könne er nicht lächeln. Sie habe ihm einen Zettel hingelegt: „Lächeln... bedeutet Überleben“ was zu einem ihrer Leitsätze geworden sei.
Im „Dünenweg“ kamen während der Lesung ständig Zuhörerinnen spontan dazu, weil zu dieser Zeit normalerweise die Beratungsangebote frequentiert werden. Nahed al Essa bezeichnete es als eine besondere Gelegenheit, vor diesem Publikum auch eine Szene aus ihrem ersten Buch in arabischer Sprache vortragen zu können. Das Buch „4222 Kilometer“ ist im Geest-Verlag unter ISBN 978-3-86685-959-3 erschienen.
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