„Verschleppt. Versklavt. Vergessen?“

Landesarchäologin referierte über das Schicksal kriegsgefangener Zwangsarbeiter

Auf dem Gelände erinnern weiterhin Holzkreuze an die verstorbenen Kriegsgefangenen, die euphemistisch als „Ostarbeiter“ bezeichnet wurden. Foto: NIK

Artikel vom: 12.03.2024

Oslebshausen (NIK) – Auf dem Gelände an der Reitbrake haben von Juli 2021 bis November 2022 umfangreiche Ausgrabungen stattgefunden. Dort waren in den Jahren 1941 bis 1945 in Kriegsgefangenschaft verstorbene Sowjetsoldaten begraben worden und über Jahrzehnte weitgehend in Vergessenheit geraten. Eine Bürgerinitiative zur Verhinderung des nun geplanten Bahnbetriebswerks gab den Anstoß zu den Grabungen. Anlässlich der Ausstellung „Verschleppt. Versklavt. Vergessen?“ im Bürgerhaus Vegesack hielt die Bremer Landesarchäologin Professor Uta Halle einen Vortrag zum Schicksal der bisher anonym gebliebenen sowjetischen Soldaten. Mithilfe der 217 aufgefundenen metallenen Erkennungsmarken konnte ein Abgleich mit der russischen Datenbank OBD Memorial vorgenommen werden. In einigen Fällen war dadurch der Kontakt mit lebenden Angehörigen möglich. Die landläufige Meinung sei, dass Archäologie sich mit Schätzen beschäftige, der Mensch stehe aber immer im Mittelpunkt.

Verwandte des kriegsgefangenen Zwangsarbeiters Ivan Pasternak konnten in der Ukraine gefunden werden. Er war 1941 schon vier Tage nach dem Überfall auf die Sowjetunion gefangengenommen worden. Mit anderen wurde er in offenen Güterwaggons ohne Verpflegung nach Deutschland verschleppt und kam in einem Lager an der Grambker Heerstraße an. Er wurde dann zwangsweise zu Bauarbeiten für Luftschutzbunker oder Ähnliches herangezogen. Der Dokumentation zufolge verstarb er am 22. März 1942 mit unbekannter Todesursache. Eine solche Verschleierung sei typisch für die NS-Herrschaft gewesen. In der Sowjetunion gingen lediglich Vermisstenmeldungen ein. Ein anderes Beispiel ist das Schicksal von Viktor Kramochev. Er war 1942 mit nur 22 Jahren verstorben, als Ursache wurde eine Lungenentzündung angegeben. 

Der Name Anton Pavetkin wurde 2022 von der Senatskanzlei auf einem Poster zum „Tag des offenen Denkmals“ auch im Internet veröffentlicht. Darauf waren dann Nutzer eines russischen Internetforums aufmerksam geworden, die den Kontakt zu Pavetkins Enkel Wladimir herstellten, der nördlich vom Kaukasus lebt. Der Enkel habe geschrieben, dass sein Großvater „in Gefangenschaft verstorben wurde“ und übermittelte das einzig existente Foto, auf dem er „ganz schön hoch zu Ross sitzt“. 

Eine anthropologische Untersuchung der sehr fragmentierten Überreste führte in keinem Fall zur Feststellung einer Identität. Man habe sich vor allem mit Handknochen beschäftigt, welche gut sortierbar seien. Öffentlich dürften keine Fotos der eigentlichen Grabungsdokumentation gezeigt werden. Unklar und auch umstritten bleibt weiterhin die genaue Anzahl der Begrabenen. Im Jahr 1948 war eine Exhumierung und Umbettung in ein „Sammelgrab“ auf dem Osterholzer Friedhof erfolgt, daher habe man nicht erwartet, noch viel vorzufinden. 

Uta Halle äußerte Zuversicht, dass mit den Ausgrabungen die gesamte als Friedhof genutzte Fläche archäologisch erschlossen worden sei, die anhand von Luftaufnahmen der Alliierten von 1946 definiert wurde. Sie beschrieb den künstlichen Untergrund in Höhe von sieben Metern über Normalnull als mehrfache Sandaufspülung mit Wesersand. Die Fläche befindet sich damit auf Höhe des Bahndamms, schon vor dem ersten Weltkrieg habe es Pläne gegeben, dort eine Eisenbahn-Werkstatt einzurichten.

Zeitgenössische Fotos belegen, dass es zunächst Holzkreuze gegeben hatte, die vor der Umbettung 1948 verschwunden waren. Eine mögliche Erklärung dafür sei, dass sie im Winter 1947 als Brennmaterial verwendet wurden. Im Jahr 1996 stellte eine zivilgesellschaftliche Initiative ein russisch-orthodoxes Holzkreuz als Mahnmal zur Erinnerung auf. Dieter Winge, Sprecher der Bürgerinitiative Oslebshausen, stellt in Frage, inwieweit mit den Ausgrabungen auch die Geschichte des Ortes gleichsam abgeräumt werden könne. 

Die Bürgerinitiative bezweifelt zudem, ob die nun untersuchte Fläche dem gesamten als Friedhof genutzten Areal entspreche. Sie verweist auf den weiterhin ungeklärten Verbleib hunderter weiterer Zwangsarbeiter und frühere Aussagen der Kulturdeputation, nach denen im Fall der Entdeckung etwa eines vollständigen Skeletts die Bebauungspläne neu bewertet werden müssten. Professorin Uta Halle sprach sich für eine geplante zentrale Gedenkstätte am Friedhof Osterholz aus. Die Reitbrake sei auch wegen der umliegenden Gewerbenutzung kein angemessener Gedenkort.


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