„Das war schon sehr erschütternd“
Autorin Kirsten Boie beschäftigt sich erneut mit der Naziherrschaft. Foto: Indra Ohlemutz
Artikel vom: 21.01.2022
Region – (NAD) Kirsten Boie entführt ihre Leser immer wieder an spannende und gemütliche Orte – wie Weihnachten in das kleine Örtchen Sommerby am Wasser. Doch sie hat auch schon gezeigt, dass sie ernstere Themen interessant schreiben kann. Ihr neuestes Buch „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ beschäftigt sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. In dem Roman geht es um unterschiedliche Kinder, die die Naziherrschaft erlebt haben. Einer von ihnen ist Jakob, der Jude ist. Aber er möchte nicht, dass das jemand erfährt. Es ist eine Geschichte über Schrecken und Angst, aber auch Mut. Kirsten Boie beantwortet in einem Interview ein paar Fragen zum neuen Roman.
Das BLV: In „Dunkelnacht“ haben Sie sich bereits mit der Naziherrschaft befasst. Nun haben Sie das Thema in ihrem neuen Jugendroman „Heul doch nicht, du lebst ja noch“ erneut aufgegriffen. Wie kam es dazu?
Kirsten Boie: In 2020 waren aus Anlass des 75. Jahrestags die Medien voll von Berichten über das Ende des Zweiten Weltkriegs im Mai 1945. Bei mir hat das Erinnerungen ausgelöst an meine eigene Kindheit in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts, in der die Erwachsenen ständig über den Krieg und die Nachkriegszeit sprachen, in der viele meiner Lehrer Arm- und Beinprothesen hatten und in der ich selbst noch auf Trümmergrundstücken gespielt habe. Das alles zusammen war dann der Auslöser für das Buch.
Das BLV: In der Geschichte geht es um Jakob, Traute, Hermann, Max und Adolf. Haben Sie für Ihre Protagonisten real lebende Personen als Vorbild genommen oder sind sie fiktiv?
Kirsten Boie: Nein, die sind fiktiv. Ich habe versucht, am Beispiel dieser Jugendlichen verschiedene Aspekte der direkten Nachkriegszeit zu beleuchten.
Das BLV: Welche Figur ist Ihnen während der Geschichte besonders ans Herz gewachsen und warum?
Kirsten Boie: Eigentlich alle – sie alle leiden auf ganz unterschiedliche Weise, sie alle sind zu jung, um mitschuldig zu sein – der jüdische Junge Jakob ja ohnehin nicht–, sie alle haben noch nicht wirklich begriffen, was das Ende des Krieges für sie bedeutet. In den Köpfen der Menschen sah es sechs Wochen nach dem Ende des Krieges ja noch nicht so anders aus als vorher, die „Stunde Null“ hat es nie gegeben, und dass das Ende des Nationalsozialismus auch für sie eine Befreiung war, hatten die meisten Menschen noch längst nicht begriffen – auch nicht die Jugendlichen.
Das BLV: Gibt es etwas, dass Sie bei der Recherche zum Buch gelernt haben?
Kirsten Boie: Zur Figur des Jakob, dessen Mutter Jüdin ist, habe ich sehr viel recherchiert und dabei unglaublich viel Neues über die Situation der Juden in Hamburg erfahren. Das war schon sehr erschütternd, zumal es häufig um Gegenden und Straßen ging, in denen ich bis heute viel unterwegs bin. Dadurch sind mir die Verbrechen der Zeit noch einmal sehr viel näher gerückt.
Das BLV: Was soll der Roman Jugendliche lehren?
Kirsten Boie: Es geht mir darum, vor allen denen, die glauben, der Nationalsozialismus und seine Verbrechen hätten nichts mit ihnen zu tun („ich bin ja keine Jude, Roma, ich bin nicht schwul“) und es wäre doch vielleicht gar nicht alles schlecht gewesen („keine Arbeitslosigkeit mehr, die Autobahnen“) und die vielleicht sogar eine schleichende Bewunderung entwickeln, zu zeigen, dass am Ende eines solchen verbrecherischen Regimes schließlich alle betroffen sind, nicht nur seine Opfer. Vielleicht erweitert das dann noch einmal den Blick und die Jugendlichen lassen sich nicht mehr so leicht von Rechtspopulisten einfangen. Denn das macht mir schon Sorge.
Das BLV: Werden Sie sich auch weiter in Jugendromanen mit der Naziherrschaft befassen?
Kirsten Boie: Wenn ich es sinnvoll finde und mir ein Stoff spannend erscheint: Dann vielleicht. Aber es wird ganz sicher nicht von jetzt an mein Kernthema werden – ich werde bestimmt auch weiterhin Bücher schreiben, die einfach nur unterhaltsam sind.
Das BLV: Vielen Dank für das Interview!
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